Familiendrama mit Zeitreise

Vertraute Fremde

Ein ergreifender Film von Sam Garbarski - mit Alexandra Maria Lara und Pascal Gregory

Ursprünglich war "Vertraute Fremde" eine Graphic Novel des Japaners Jiro Taniguchi. Die in Japan spielende Originalstory hat Sam Garbarski einfühlsam und gekonnt nach Frankreich transloziert.

In einer bei Dieter Wunderlich nachzulesenden Filmkritik heißt es dazu lapidar:

"In Vertraute Fremde geht es um den Wunsch, die Vergangenheit zu verändern. Thomas ist nach einer Zeitreise von rund 35 Jahren wieder 14, verfügt jedoch weiterhin über die Kenntnisse und Erfahrungen des älteren Mannes. Er weiß deshalb, dass sein Vater die Familie 1966 verließ. Und das versucht er nun zu verhindern."

Hört sich banal an und hätte mich nie und nimmer gereizt, den Film anzuschauen. Noch weniger, wenn ich vorher diese Beurteilung gelesen hätte:

 "Die Grundidee ist faszinierend. Vertraute Fremde ist ein leiser, bedächtig erzählter Film. Aber es fehlt an Konflikten, und weder Sam Garbarski noch den Darstellern gelingt es, uns die Figuren nahezubringen, sie zu farbigen, lebendigen Charakteren zu machen. Auch die Geschichte bleibt oberflächlich und episodenhaft."

Wer auch immer das geschrieben hat - man spürt, dass da jemand durch die moderne actionfilmhaften Verfilmungen auch von Stoffen, wo das nicht angemessen ist, "verdorben" ist.

Ausschnitt aus dem Cover des Faltprospektes zu dem Film

Mit dem falschen Zug zurück in die Jugend

Wesentlich näher an meiner persönlichen Wahrnehmung des Films ist die Beschreibung im Faltpropekt des Verleihs: "Atmosphärisch dicht, im stimmungsvollen Look der 60er Jahre, inszeniert Sam Garbarski die faszinierende Reise eines Mannes, der erkennt, dass man die eigene Vergangenheit verstehen muss, um seine Gegenwart meistern zu können."

 

Auf einer Comic-Messe sitzt an einem kleinen Stand ein müde und introvertiert wirkender fünfzigjähriger Mann, Thomas Verniaz, hinter seinen ausgelegten Comics und stochert in seinem fast food. Niemand interessiert sich für ihn. Seine Zeit ist vorbei, er hat seit Jahren keine neue Ideen. Als er am Abend nach Paris zu seiner Familie zurückkehren will, erwischt er den falschen Zug und landet in einer Kleinstadt in den Bergen, wo ihn der Schaffner aus dem Zug setzt, weil er die falsche Fahrkarte hat.

Benommen steht Thomas auf dem Bahnsteig und realisiert nach einer Weile zweierlei: 1. dass der nächste Zug nach Paris erst in fünfeinhalb Stunden geht und zweitens, dass dies sein Heimatstädtchen ist, wo er seit Ewigkeiten nicht mehr war, zuletzt bei der Beerdigung seiner 1975 verstorbenen Mutter.

Auf dem Weg zum Friedhof, wohin es ihn zieht, durchquert er das Städtchen, dessen Zeit ebenfalls vorbei ist - Leerstand reiht sich an Leerstand - und trifft unterwegs einen Freund aus seiner Jugend. Sie erkennen einander, das Gespräch ist banal, fast peinlich, die Bedeutung wird erst später klar.

Vor dem Grab seiner Mutter wird ihm schwindelig, als er in den Himmel blickt, um einem Schmetterling nachzuschauen, er stürzt auf die Steinplatte und wird ohnmächtig. Durch wirbelnde Wolken vermittelt der Film, dass nun der Zeitsprung stattfindet. Als Thomas wieder zu sich kommt und sich verwirrt aufrichtet, ist er wieder vierzehn. Es ist 1966, das Jahr, als sein Vater verschwand.

 

Der wieder Vierzehnjährige befindet sich im damaligen Leben, weiß aber alles, was er in fünfzig Jahren erlebt hat und verirrt sich immer wieder zwischen seiner alten und seiner neuen Identität. Als die Mutter ihn weckt, weil er zur Schule muss, ist er völlig verwirrt, wieso Schule? Als das Mädchen, das damals in seiner ersten Jugend sein unerklärter Schwarm war, sich heftig für ihn interessiert und mit ihm schlafen will, muss er ablehnen, weil er seine Frau nicht betrügen will. Aber das kann er dem Mädchen nicht vermitteln. Es kommt zu allerlei tragikomischen Verwicklungen und Irrtümern, die den Film beleben, aber nicht seine Essenz ausmachen.

Thomas' Trauma ist der Weggang des Vaters. Der ist jetzt wieder beziehungsweise noch da, aber als Thomas  von der Schule nach Hause kommt und den Vater nicht sogleich findet, ruft er alarmiert: "Wo ist Papa?". Die Mutter versteht seine Aufregung nicht. Er ist in seiner Schneiderwerkstatt, wo denn sonst?

Dem Vater auf der Spur

Irgendwann bemerkt er, dass der Vater regelmäßig Blumen und Pralinen kauft und dann mit dem Auto davon fährt, ohne sich zu erklären. Er beginnt ihn zu beschatten, borgt sich ein Moped und fährt hinter ihm her. Auf diese Weise bekommt er heraus, dass der Vater regelmäßig eine schwerkranke Frau besucht. Die Großmutter verrät ihm, dass dies die Frau ist, die sein Vater eigentlich hatte heiraten wollen. Stattdessen hatte er die Freundin seines besten Freundes geheiratet, nachdem dieser bei einer Résistance-Aktion erschossen wurde - aus Mitleid.

 

Der Geburtstag des Vaters naht und Thomas will auf jeden Fall verhindern, dass sich das Drama vom ersten Mal wiederholt, dass der Vater von Tisch aufsteht und verschwindet. Und tatsächlich scheint es sich zu wiederholen. Als die Mutter feststellt, dass nicht genug Brot da ist, steht der Vater sofort auf, um - angeblich - zum Bäcker zu fahren. Genau wie damals. Aber Thomas hat vorgesorgt. Er zieht einen Brotlaib unterm Tisch hervor - der Plan des Vaters ist vereitelt. Aber nur scheinbar, denn der Vater lässt sich nicht aufhalten und verschwindet in einem unbeobachteten Moment.

Der Augenblick der Wahrheit

Thomas will ihm folgen, aber die Mutter hält ihn zurück, sie behauptet, keinen Zweifel zu haben, dass ihr Mann zurückkommen wird. Aber aus dem Wissen seiner ersten Jugend weiß Thomas, dass das nicht so sein wird. Er springt auf sein Rad und rast zum Bahnhof, findet in der Tat den Vater, der auf den Zug nach Paris wartet. Er versucht, ihn zu überreden, nicht zu fahren, zu bleiben. Der Vater erzählt ihm, dass die kranke Frau, die er immer besucht hat, gestorben sei. Kurz vorher hatte sie gesagt: "Ich habe überlebt. Aber gelebt habe ich nicht." Thomas soll seiner Mutter sagen, das Geld läge im obersten Fach des Küchenschrankes.

Nun setzt Thomas sein Vorwissen ein und sagt, dass die Mutter den Weggang ihres Mannes nicht überleben wird. Der Vater ist irritiert: Was redest du da? Schließlich kommt der Zug, er steigt ein. Der Junge bittet ihn ein letztes Mal, nicht zu gehen. "Ich muss", sagt er voll tiefer Traurigkeit, "ehe es auch für mich zu spät ist."

Es gibt kein richtiges Leben im falschen

"Ich habe immer getan, was getan werden musste", hatte der Vater in einem früheren Gespräch gesagt. Damit meinte er auch, aus Anstand die Freundin des umgekommenen Freundes zu heiraten anstatt die Frau, die er wirklich liebte. So hat er zwar ordentlich gelebt, seine Frau und zwei Kinder ernährt, aber es war nicht sein eigentliches, sein eigenes Leben. So wie seine frühere Liebe, die auch überlebt statt gelebt hat.

Nun möchte er die letzte Gelegenheit nutzen, doch noch ein Stück seines eigenen Lebens zu erhaschen - bevor es zu spät ist. Und dazu muss er halt Frau und Kinder verlassen. Es ist ihm anzusehen, dass ihm das nicht leicht fällt, da er letztlich nur zwischen zwei falschen Entscheidungen wählen kann.

Nachdem der Zug mit dem Vater abgefahren ist, fährt Thomas zurück und versucht seiner Mutter zuzureden, nicht auf den Vater zu warten, sondern ihr eigenes Leben zu leben. Damit wenigstens dies anders verläuft als beim ersten Mal. Dabei weiß er, dass sie es nicht schaffen wird.

Am folgenden Tag fährt er mit dem Fahrrad zum Friedhof, stürzt, kommt in einen Taumel, wird ohnmächtig und kommt als der Fünfzigjährige wieder zu sich. Er geht zurück zum Bahnhof und nimmt den richtigen Zug nach Paris. Nur fünfeinhalb Stunden sind seit seiner Ankunft vergangen.

Thomas hat den Ablauf der Vergangenheit nicht verändern können. Aber er hat etwas verstanden. Er hat das verstanden, was der Psychologe Ulrich Beer schon vor Jahrzehnten in seinem Buch "Mut zum Glück" ausdrückte:

 

"Mein Glück beginnt, wenn ich mich für mich entscheide. Ich muss nicht das Leben eines anderen führen, sondern mein eigenes; ich bin nicht zuerst für andere verantwortlich , sondern für mich, und nicht andere sind für mich verantwortlich, sondern ich selbst bin es." (Ulrich Beer: Mut zum Glück Econ-Verlag )

Thomas weiß nun, wie er sein eigenes Leben wieder auf die Reihe kriegt. Und darum geht es .  TK.

Hallo Till, ich habe mich zunächst gewundert, dass du hier so eine olle Kamelle auftischt. Ich hatte den Film damals, als er in den Kinos lief, nicht geschaut, weil die ausgestellten Bilder mich nicht ansprachen. Jetzt nach deiner Rezension, habe ich mir die DVD besorgt und ihn mit meiner Frau zusammen angeschaut.

Es hat mich ziemlich umgehauen, muss ich sagen. Die Verlassensstory ist meiner recht ähnlich, etwas zu ähnlich, um sie distanziert nur als einen unterhaltsamen Film zu konsumieren.  Mehr will ich hier gar nicht schreiben, dir aber für diese besondere Rezension danken, die mich dazu gebracht hat, den Film anzuschauen.

Thomas N., Bremen 24.4.17