Biographiearbeit und Spurensuche in Nazideutschland

Jörg Stanko:  "Wie ich einen ostpreußischen Superhelden erfand" • 100 Seite kart., Pomaska-Brand-Verlag, ISBN 978-3-935937-81-8

Über einen befreundeten Blog war ich auf die Seite des Pomaska-Brand Verlags in Schalksmühle geraten. Dort wiederum fand ich den Buchtitel von Jörg Stanko, wo das Wort „ostpreußisch“ schon mal Resonanz machte, und den Link zu einer Rezension von Astrid van Nahl. Und als ich dort lese „Vielleicht berührt mich diese Geschichte deshalb so sehr, weil sie irgendwie auch Teil der Geschichte meiner Familie ist. Der August, das hätte auch mein Großvater Fritz aus Tilsit sein können“ bin ich geködert, denn ich habe ja auch einen Großvater in Tilsit gehabt.

 

 

 Jörg Stanko war so nett, mir das Buch in die Reha hinterher zu schicken, in der ich gerade bin. In einer Reha ist man zwei Drittel des Tages voll beschäftigt, aber dann hat man Zeit. Viele haben dann Langeweile, ich nicht, ich habe dieses Buch. Also ran.

 

Was lese ich da eigentlich, einen Roman oder was? Der Autor ist sich da selber offenbar nicht so sicher. Auf dem Cover steht keine Genre-Angabe, auf dem Innentitel aber steht „Roman“. Damit nicht genug. „Ich schreibe einen Roman“ sagt er auf Seite 10, und auf Seite 13: „Ich schreibe hier keinen Roman.“

 

Ein gewolltes Verwirrspielchen? Könnte sein, denn auch der Aufbau des Hundertseitenopus ist ein dauerndes Hin- und Herspringen zwischen Zeitebenen: im Krieg, nach dem Krieg, im Hotel in Holland oder am Baldeneysee, wo der Autor gerade schreibt, und wieder vor und zurück. Da können einem die Stränge schon mal durcheinander geraten, auch die genannte Rezensentin vertut sich, indem sie Friedrich „in den Krieg“ ziehen lässt, wo er doch eindeutig deportiert wird.

 

 

Von der Masurischen Idylle ins Todeslager

 

Die Geschichte beginnt in Bärengrund, einem Masurischen Dörfchen, wo der Metzger Januschewski sich für die braunen Ideen begeistert und es bis zum NSDAP-Ortsgruppenleiter bringt und der jüdische Gastwirt Moshe Kaminski trotz seiner Beliebtheit im Dorf letztendlich doch noch im gleichen Todeslager landet, in das der genannte Friedrich gekommen ist.

 

In Bärengrund gibt es aber auch den August, der heißt Stanko und ist der Großvater des Autors. Der muss zwar nicht in den Krieg, weil er zu mager ist, aber am Bahnhof Dienst tun und dort zum Beispiel auch die Schiebetüren der Waggons schließen, in denen Menschen abtransportiert werden, unter anderem der erwähnte Friedrich. Später, als Frontsoldaten knapp werden, bekommt er trotz Magerkeit dennoch seinen Marschbefehl und sieht den Sohn nur einmal kurz bei einem Heimaturlaub, dann erst nach Kriegsende wieder.

 

Dieser Sohn und die Mutter fliehen in einem der berüchtigten Trecks über das zugefrorene Haff – genau so wie meine väterlichen Großeltern. Von ihm, also seinem Vater,  erfährt der Autor später, als sie zusammen nach Masuren reisen, um nach Wurzeln zu suchen, die bedrückenden Details dieser Flucht.

 

Eingeschachtelt in diese Forschungsreise immer wieder Rücksprünge, in denen der Leser häppchenweise erfährt, wie es weiter ging mit Friedrich, mit Moshe und natürlich mit August. Dazwischen wieder der Metatext über die jeweilige Schreibsituation des Autors.

 

Deutscher zu sein ist nicht einfach

 

Was ihn wirklich umtreibt, diesen Autor? Das hat er schon ganz am Anfang verraten: „Es geht mir, glaube ich, um meine Identität.“ Er begreift sich als typisch deutsch und das ist ihm peinlich, das macht ihm Probleme, denn die Nazis waren schließlich Deutsche. Das Schreiben dieses Romans ist also therapeutische Biographiearbeit.

 

 Nachdem er dem Leser die geballte Nazikatastrophe um die Ohren gehauen hat, merkt er, dass ihm das selber zu viel wird und versucht, das Schwere zu relativieren. Er schreibt das Schicksal des Friedrich um, der nun nicht mehr im Todeslager landet, sondern in Amerika, und auch sein Opa August wird zum netten Menschen, der keine Deportationswaggons verschließt.

 

Ich bin kein Deutscher geworden“, resümiert der Autor am Schluss, „aber mein Verantwortungsgefühl dafür, was es heißt, Deutscher zu sein, ist gewachsen.“ Die „tristesse allemande“ ist jedoch nicht aus seinen Knochen verschwunden.

 

Nach der ersten Lektüre des Buches war ich ein wenig seekrank von dem vielen Hin- und Hergeschaukel zwischen den Zeitebenen und Schauplätzen. Ein zweiter Durchgang brachte mehr Durchblick.

 

Vielleicht würde ich dies dem Autor ein wenig übel nehmen, wie auch die eine oder andere handwerkliche Ungenauigkeit, aber er hat bei mir a priori diverse Sympathie-Bonuspunkte. Als Ostpreuße, als Spurensucher, als kritischer Stocherer im Nazimorast. Und natürlich auch aufgrund diverser Schnittmengen mit meiner Vita und meiner Schreibe.

 

Der Vater, mit dem er sich auf Spurensuche begeben hat, ist genau mein Jahrgang. Der und ich heißen im modernen psychologischen Sprachgebrauch Kriegskinder, Jörg Stanko ist ein Kriegsenkel. Um diese beiden Gruppen hat sich im letzten Jahrzehnt eine Forschungs- und Seminarszene gebildet, die die Traumata anschauen und bearbeiten will und einige diesbezügliche Sachbücher hervorgebracht hat.

 

Mit seinem Buch hat Jörg dies selber in die Hand genommen, so wie ich es auf ähnliche Weise mit meinem Roman „Ansichtskarten aus der Kälte“ getan habe: Wurzelsuche, Biographiearbeit, Traumaverarbeitung. Bei ihm kommt noch die Identitätsfrage hinzu, die ich nicht habe und nie hatte. Bei allem Schauder vor den Nazigräueltaten inklusive dem Verdacht, dass mein Vater hier und dort involviert gewesen sein könnte, sehe ich Deutschland als ein Land, das aus der Katastrophe gelernt hat wie kaum ein anderes.

 

Bleibt die Frage, ob es denn nun ein Roman ist, was ich da gelesen habe. Das lasse ich mal – wie der Autor selber – offen. Wenn es einer wäre, dann wäre das happy end in Dänemark eine kitschige Fiktion. Da es aber die Realität seiner Familiengeschichte ist, ist es einfach nur anrührend, und ich musste mir beim Zuklappen des Buches die Augen wischen. So hätte ich mir das für meine Familie auch gewünscht.

TK. 18.9.16