Mathias Jung. Mut zum Ich

Engagierte Anleitung zum Wachstum 220 S. kart. Erschienen bei dtv, ISBN 978-3-423-34116-5, € 9,-

„Der Mensch hat eine rührende und gefährliche Treue zu seiner Vergangenheit und sehr wenig Mut zu seiner Zukunft.“ Nein, dieser Satz ist nicht von Mathias Jung, sondern von Walther von Hollander, der dies schon vor dem Krieg in seinem berühmten Buch „Der Mensch über 40“ schrieb. Mathias Jung sagt es anders: „Die Angst vor der ständigen Veränderung, vor dem ständigen Abschiednehmenmüssen, vor dem ständigen Sterbenmüssen lässt uns das Bleibende suchen – das wir dann allzu bleibend haben wollen -, sie lässt uns die Symbiose suchen, so kann man bei jeder Form  von zu lange anhaltender Symbiose fragen, gegen welche Entwicklung sich ein Mensch sperrt.“

Der Titel des Buches „Mut zum Ich“ ist eigentlich eine Frechheit, impliziert und suggeriert er doch, dass dieser Mut vielen Menschen fehlt, wer sollte sonst das Buch kaufen?  „Mut zum Ich bedeutet Wachstum. Wachstum aber bedeutet Veränderung“. Damit ist umrissen, worum es geht in diesem Buch.

M. Jung setzt zwei wenig bekannte Märchen ins Zentrum seines Werkes: „Graf Blaubart“ vornehmlich für Frauen und „Der Eisenhans“ speziell an Männer gerichtet.

In der Ausdeutung des Blaubart-Märchens schreibt M. Jung u.a., dass Mädchen noch heute beigebracht werde, lieb und schön zu sein, um einen Mann abzukriegen, denn ohne einen solchen sind sie nichts,  und sollte er – so wörtlich - ein Kotzbrocken sein, werden sie ihn schon zum Prinzen küssen. Klar, dass er hier auch eine Linie zu Robin Norwoods Buch „Wenn Frauen zu sehr lieben“ zieht.

Das Märchen vom Eisenhans resümiert Jung genauso wie das vom Blaubart, so dass man beide nicht kennen muss. Beim Eisenhans geht es um den Schlüssel zur Männlichkeit, den der Junge unter dem Kopfkissen der Mutter weg entwenden muss. Ein schwerer abenteuerlicher Weg steht ihm bevor bis zum Erreichen der Mannbarkeit.

Jung offenbart mehrfach Autobiografisches, etwa um die Notwendigkeit des Abschieds von überlebten Idealen zu illustrieren. Früher sagte man: „Wer mit zwanzig kein Kommunist ist, hat kein Herz; wer mit vierzig immer noch Kommunist ist, hat keinen Verstand.“ Jung zitiert den Satz nicht, berichtet aber über seinen Austritt aus der Kirche, seinen Weg vom Wortführer im Sozialistischen Hochschulbund bis zur Lösung von den Idealen des „real existierenden Sozialismus“.

Ein Buch über Wachstum und Persönlichkeit kommt am Thema Sexualität nicht vorbei. Es ist vielleicht sogar Jungs Hauptthema, verwoben mit seinen anderen wichtigen Themen wie Partnerschaft, Treue, Außenbeziehung.  Hier überlappen sich die Inhalte ein Stück weit mit seinen anderen Büchern, hauptsächlich mit dem hier auch schon besprochenen Werk „Das sprachlose Paar“, damit ist Jung Peter Lauster ähnlich, der es vor fünfundzwanzig Jahren mit ähnlichen Themen ähnlich gehalten hat.

Die vier Hauptfeinde der  Sexualität in einer Partnerschaft sind, so Jung, Alkohol, Fernsehen, Arbeitssucht und unstimmige Beziehung. Aber  selbst die liebevollste und harmonischste Partnerschaft unterliegt  einem schleichenden Schwund an Sexualität, mindestens aber an Erotik. Mit diesem Thema setzt Jung sich sehr intensiv auseinander und bringt sehr gute Fallbeispiele aus seiner Beratungspraxis. Und konkrete Wegweiser zur Überwindung des Dilemmas.

Was Jung über Treue, Eifersucht  und Außenbeziehungen schreibt, findet zwar die ungeminderte Zustimmung des Rezensenten, dürfte aber für die Mehrheit der LeserInnen  ein schwer zu verdauender Brocken sein. „Macht sich der Begriff Treue wirklich an der Sexualität fest oder nicht vielmehr an  dem emotionalen Vertrauen, der Verlässlichkeit und Verbundenheit?“  Vielleicht eine Spur zu radikal spricht Jung von den „kalten Kriegern der Liebe“, die „das ultimative Entweder-Oder“ schätzen, „die klaren Verhältnisse, den reinen Tisch. Was verteidigen sie damit? Die Treue oder doch nur einen Besitz und die Verlustangst?“ Und dann der messianische Satz: „Wenn wir aufhörten, einander zu gehören,  könnten wir dann nicht besser zueinander gehören?“

Und dennoch vermisse ich etws bei Matthias Jung. Er distanziert sich, teilweise heftig, teilweise lächerlich machend, von jeglicher Spiritualität. Die aber, meine ich, ist für wirklich ganzheitliches Wachstum unerlässlich. Nun, damit will ich dem Buch nichts von seinem Wert und seinem Impact nehmen. Es wird ja nicht das einzige sein, das ein wachstumshungriger Mensch zur Hand nehmen wird. Matthias Jung hat ihm auf jeden Fall viel zu sagen. TK ©