Saleem Matthias Riek und Rainer Salm: Lustvoll Mann sein

Expeditionen ins Reich männlicher Sexualität • 300 S., J. Kamphausen-Verlag ISBN 978-3-89901-920-0, 18,95 €

Saleem Matthias Riek hatte mich gewarnt. „Als Fan von David Deida werden dich einige unserer Thesen vielleicht irritieren,“ schrieb er in einer email parallel zum Rezensionsexemplar. Schaumerma.

 

Zeit meines Lebens habe ich immer gedacht, bei mir läge die Sexualität immer ganz weit vorn im Bewusstsein, sei immer Thema, viel zu wichtig und viel zu dringend und und und. Nach der Lektüre der fünfzehn Statements von Männern über ihre Sexualität relativiert sich dieser Eindruck doch sehr. Da rangiere ich allenfalls im unteren Drittel.

 

Nachdem mein Bernie Zilbergeld-Buch schon lange weg ist (verborgt oder bei irgendeinem Umzug verschwunden) und fünfundzwanzig Jahre nach Volker Elis Pilgrim gibt es jetzt also endlich wieder ein „richtiges“ Männerbuch, dazu noch ganz und gar fokussiert auf die männliche Lust. Heißa!

 

Die Gretchenfrage, mit der die beiden Autoren jedes der fünfzehn Interviews begonnen haben, hieß: „Bist du ein normaler Mann?“ Die weiteren Fragen waren weniger standardisiert, sondern ergaben sich in Varianten aus dem Kontext der Statements: nach dem, was Sex für ihn erfüllend macht, nach der Bedeutung von Freiheit und Treue, nach der Orientierung zwischen hetero- und homosexuell, nach der Bedeutung von Nähe, Prostitution und Spiritualität bis hin zu der von analer Stimulierung, ein weiter Bogen.

Das männliche Trauma: Nicht willkommen sein

Da lesen wir von Urs, dass sein Bild von sich das von Frauen vermittelte war: zu heftig, zu wuchtig, zu viel Verlangen. Dieses Thema wird von den Autoren auch mehrfach in den zwischen die Interviews geschalteten „Gedankensplittern“ aufgegriffen, das fast archetypische Trauma des Mannes, mit seiner Sexualität nicht willkommen zu sein – sowohl bei einer bestimmten Frau wie auch generell in dieser Gesellschaft.

 

Am anderen Ende der Skala zeigt sich Alex mit seiner „extremen Lust am Streicheln und Massieren“, also genau das, was Frauen wünschen. Denkste. Einigen wurde es zu viel, sie vermissten Männlichkeit.

 

Bei Karl und anderen erhält der Leser Einblicke in schwule Begehrlichkeiten, Szenen und Verhaltensweisen, über die übliche Homophobie und deren Überwindung.

 

Die meisten befragten Männer können aus mehreren Beziehungen berichten, auch von mehr als einer gleichzeitig und, wen wundert's, auch mit mehreren Partnerinnen zugleich. Polyamory ist ein wiederkehrendes Thema, mal im Konsenz der Beteiligten, manchmal auch als bloßer Traum oder Forderung an die Partnerin inklusive der dadurch entstehenden Spannungen.

 

Die Autoren stellen denn auch die Frage nach der angeblichen oder tatsächlichen polygamen Veranlagung des Mannes – ohne den Begriff zu benutzen. In dem Kontext interessant die Präzisierung des Begriffs Treue „wenn das nicht sexuelle Exklusivität bedeutet“. Ganz spannend an der Stelle die Gegenfrage: „Warum ist Neugier und Lust auf Abwechslung überhaupt erklärungsbedürftig?“ Genau: Warum muss man (Mann?) das verteidigen und rechtfertigen? Eine wichtige gesellschaftliche Frage, über die noch viel mehr gesprochen werden müsste.

Männliche Sexualität und Spiritualität

Wie ein roter Faden zieht sich eine andere Frage durch das Buch, die nach der Bedeutung von Orgasmus und Ejakulation und ob das eine ohne das andere denkbar, ob die Trennung der beiden Phänomene Ziel oder gar Realität sei. Erstaunlich viele Männer kennen Orgasmus ohne Ejakulation und beschreiben, wie sie dahin gekommen sind, da gibt es eine interessante Bandbreite. Da wird mehrfach das Buch von Mantak Chia erwähnt, leider jedoch nicht das von Jolan Chang, das ich persönlich für zugänglicher und nachvollziehbarer halte.

 

Auffallend oft fällt im Buch das Wort Tantra, und das kommt nicht von ungefähr. Die Autoren sind halt in diesem Feld unterwegs, Saleem Matthias Riek ist ohne Übertreibung einer der Alphatiere auf diesem Gebiet. Das hatte natürlich zur Folge, dass sie hier auch problemlos ihre Interviewpartner rekrutieren konnten. Das ist von mehreren Rezensenten kritisiert worden. Kritisieren möchte ich das nicht, denn wenn man über Lust des Mannes schreiben will, macht es wenig Sinn, einen banalen Durchschnittsmann von der Theke zu holen, der mit seiner Potenz und seinen Aufreißerfolgen prahlt.

 

Andererseits gibt es durchaus andere Felder, in denen Lust und sexuelles Lernen weit oben im Bewusstsein stehen, ohne dass eine Verbindung mit Tantra vorliegen muss, ich sage nur ZEGG und/oder Tamera. Im Spektrum vieler genannter und im Anhang erläuterter Seminartypen fehlen leider auch die so genannten HAI-Seminare des Human Awareness Institute.

 

Auch wenn Rafael berichtet, dass er in Tamera (Portugal) war und dort endlich – als Gegenbild zu dem von Urs Gesagten (s.o.) - gespürt hat, als sexuelles Wesen willkommen zu sein, hätte ich mir aus dieser Ecke mehr Statements gewünscht.

 

Von frühen Traumatisierungen von Mädchen ist im öffentlichen Diskurs vielfach die Rede, der gleiche Diskurs bezüglich Verletzungen und Beschämungen der Jungen fehlt noch und wird von den Autoren eingefordert. Andererseits betonen sie auch, dass die Verantwortung, sich auf den Weg der Heilung zu begeben, beim erwachsenen Manne selber liegt. Jeder Mann, ob mit oder ohne solche Verletzungen, kann sich aufmachen, sich auf eine „Heldenreise“ begeben, in erotischer Hinsicht Neuland betreten, Tabus brechen, „abgefahrene Phantasien in die Tat umsetzen“. Oder er kann Otto Normalbumser bleiben, „aufreißen, flach legen und das war's“ wie auf dem Rücktitel des Buches zu lesen.

 

In der kleinen Liste der Dinge, die ich im Buch vermisst habe, fehlt noch etwas: die Thesen, die mich „als Fan von David Deida“ irritieren. Fehlanzeige. TK. 29.9.16